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Von Julian zu den Kappadokiern - Ein Blick auf das „andere Byzanz“

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Dem östlichen bzw. griechischen Mittelalter haftet zum Teil etwas Finsteres und Rohes an, das unter anderem auch im Wort “Byzantinismus“ zum Ausdruck kommt. Den Bedürfnissen der Monarchie (der Herrschaft des Autokrators), der mit ihr liierten Kirche, des “Agrarfeudalismus“ und der “aristokratisch“ gegliederten Gesellschaft entsprach ein religiöses, geistiges und sittliches Leben, das in mancher Hinsicht durch Intoleranz, Erstarrung, Aberglauben und Formalismus gekennzeichnet war. Es wäre jedoch eine grobe Vereinfachung, wenn man meinte, die byzantinische Geschichte sei nichts als ein ununterbrochener historischer Prozess des kulturellen Verfalls. Trotz all ihrer Schattenseiten hat die byzantinische Welt Leistungen von unschätzbarem Wert vollbracht. Es hat also auch das “andere Byzanz“ gegeben. Vgl. Pavlos Tzermias, “Das andere Byzanz, Konstantinopels Beitrag zu Europa”, Freiburg Schweiz 1991; derselbe, “Aspekte der griechischen Philosophie von der Antike bis heute”, Tübingen 2005, S.116 ff.

Das große Verdienst der byzantinischen Kultur ist in der Tatsache zu erblicken, dass sie eine Brücke von der klassischen Antike zur christlichen Welt gebaut hat. Die weitgehende Hellenisierung des byzantinischen Staates bedeutete viel mehr als eine bloße Rezeption der griechischen Sprache. Das Reich wurde “byzantinisch“ in dem Sinne, dass sich das Staatsbewusstsein noch römisch nannte, aber hellenisiert war. Wie die griechisch-christliche Kultur überhaupt, war auch der Gräzisierungs- oder, wenn man von der hellenischen Antike ausgeht, Regräzisierungsprozess nicht frei von Widersprüchen. Kaiser Julian (Regierungszeit 361-363), von den Christen Apostat (der Abtrünnige) genannt, unternimmt zwar den Versuch, dem Christentum ein nach dessen Vorbild geläutertes, in neuplatonischem Geist erneuertes Heidentum entgegenzusetzen. Er hält aber die Philosophen von den staatlichen Stellungen fern. Julian fühlt sich vom hellenischen Heidentum angezogen; in der Zerstörung der heidnischen Denkmäler erblickt er eine mit der Liebe zu Griechenland unvereinbare Tat. Er stellt indes den religiösen Glauben der alten Griechen nicht ganz her, sondern er führt einen heidnischen Monotheismus ein, der vom Mithras- und Sonnenkult beeinflusst ist. “Ihr habt kein Gefühl für die Morgenröte“, wirft er den Christen vor. Jacob Burckhardt charakterisierte die Physiognomie der Zeit Julians als eine “große Mischung aus Philosophie, Magie und allen Mysterien“.

Seine Religionspolitik leitete Julian mit der Proklamierung der Toleranz ein. Doch bald wurde seine antichristliche Haltung in mancher Maßnahme evident. Mit einem im Juni 362 erlassenen Dekret ordnete er an, dass nur heidnische Dozenten die Lehre der altgriechischen Autoren vermitteln durften, in der Überzeugung, dass man nur das gut lehren könne, woran man selbst glaube. Freilich war Julians Liebe zur altgriechischen Paideia nicht uneingeschränkt. Für Epikur hatte der Kaiser nicht viel übrig. Obschon Julian das Christentum bekämpfte, akzeptierte er andererseits einige christliche Elemente. So strebte er die Organisation der heidnischen Priesterschaft nach dem Vorbild der christlichen Kirche an. Julians aussichtsloser Versuch, eine Welt zu retten, über welche die Geschichte ihr Urteil endgültig gesprochen hatte, fand später im Abendland auf verschiedene Weisen Beachtung. Im Mittelalter war die Legende verbreitet, Julian habe sterbend den Sieg des Galiläers anerkannt (“Du hast doch gesiegt, Galiläer“). Im Jesuitendrama stieß die Gestalt Julians auf Interesse. Die Renaissance suchte die Herrschertugenden des heidnischen Kaisers hervorzustreichen. Die Aufklärung begegnete dem Apostaten mit Sympathie. Im 19. Jahrhundert befassten sich Literaten verschiedener europäischer Länder mit Julian. So behandelte Henrik Ibsen (1828-1906) den Zusammenstoß von antikem und christlichem Geist im Drama “Kaiser und Galiläer“ (1873).

Schon im 4. Jahrhundert attestierte Prudentius, der bedeutendste christliche lateinische Dichter des Altertums, dem byzantinischen Apostaten, er sei zwar Gott gegenüber untreu gewesen, nicht aber auch gegenüber der Oikumene. Allein dieses Urteil genügt, um die Eigenart der byzantinischen Kultur zu demonstrieren, die trotz und zum Teil auch wegen ihrer Widersprüche eine große Ausstrahlungskraft besaß. Die Eigenart der Ehe von Hellas und Christentum lässt sich ferner bei Gregor von Nazianz (gest. 390) feststellen. Der berühmte Kirchenvater bezieht im Zusammenhang mit dem Bildungsedikt Julians gegen dessen Hellenismusbegriff Stellung. Gregors Auffassung, dass “Hellenizein“ eine sprachliche (Griechisch sprechen) und nicht eine religiöse Dimension (Heide sein) habe, erlebt in der spätbyzantinischen Zeit eine Renaissance von ungeahntem Ausmaß. Unter dem Einfluss des Neuplatonismus erblickte Gregor die Grundlage der Theologie in dem das menschliche Wort übersteigenden Mysterium Gottes (“Du Jenseits von allem, was ist, wie anders kann ich Dich nennen?“). Deswegen lehnte er den Verbalismus, die, wie er sagte, Technologia, die “technisierte“ rhetorische Dialektik, ab. Vgl. Jean Plagnieux, “Saint Grégoire de Nazianze théologien”, Paris 1952, S. 15, 20, 45, 274, 327; Friedrich Heiler, “Die Ostkirchen, Neubearbeitung von Urkirche und Ostkirche”, München/Basel 1971, S. 103 f. Der heidnische Sophist, meinte Gregor von Nazianz allerdings, müsse mit seiner eigenen Rhetorik und Kunstsprache bekämpft werden.

Ein hervorragender Repräsentant der griechisch-christlichen “Synthese“ war Gregor von Nyssa (gest. 394/397), der als der große Theoretiker unter den drei Kappadokiern (Basileios der Grosse, Gregor von Nazianz, Gregor von Nyssa, Bild oben) gilt. In seiner “Geschichte der altkirchlichen Literatur“ schreibt Otto Bardenhewer, dass keinem Kirchenschriftsteller des 4.
Jahrhunderts die heidnische Philosophie so vertraut gewesen sei wie dem Nyssener. Gregor von Nyssa verband den christlichen Glauben mit platonischen und neuplatonischen Gedanken. Seine Lehre trägt deutlich den Stempel der Beeinflussung durch Origenes. Trotzdem blieb seine theologische Spekulation kirchlich unbeanstandet. Die mystische Gottesschau, die “göttliche und nüchterne Trunkenheit“ bildet ein wesentliches Element der Lehre des Nysseners. Dabei spielt laut Gregor die Sehnsucht nach Gott (“Finden besteht im Suchen“) eine wichtige Rolle.

Die Verbindung von Elementen der antiken Philosophie und der christlichen Lehre bei Gregor von Nyssa erklärt, warum dieser Denker das Interesse von Gelehrten auf sich lenkte, deren fachliche Richtung unterschiedlich war. Der deutsche Altphilologe Werner Jaeger (1888-1961) befasste sich mit der Edition des Werkes und der Würdigung der asketisch-mystischen Theologie des großen Kappadokiers. Und der katholische Schweizer Theologe Hans Urs von Balthasar (1905-1988) verfasste als junger Mann ein Essay über die religiöse Philosophie Gregors von Nyssa (“Présence et pensée”, Essai sur la philosophie religieuse de Grégoire de Nysse, Paris 1942). Ein Blick auf die einschlägige Bibliographie in verschiedenen Ländern Europas und in den Vereinigten Staaten von Amerika bezeugt die Wirkung des genialen Vertreters der griechisch-christlichen Kultur auf den Westen.


Pavlos Tzermias, Korrespondierendes Mitglied der Athener Akademie
Der Verfasser des nachstehenden Beitrags, Gräzist an den Universitäten Freiburg i.Ü. (1965-1995) und Zürich (1984-1992), Direktor des Europäischen Kulturzentrums Delphi (1977-1979) und Griechenland- und Zypernberichterstatter der Neuen Zürcher Zeitung (1967-1995), ist Autor zahlreicher Bücher und Abhandlungen in verschiedenen Sprachen. Für sein wegweisendes Wirken auf dem Gebiet der Griechenlandstudien wurde er durch hohe Auszeichnungen geehrt: Preis der Athener Akademie, Auszeichnungen durch den Präsidenten der Griechischen Republik, durch die Stadt Thessaloniki, durch den Präsidenten der Republik Zypern, zwei Festschriften u.a.m. Am 30. März 2000 wurde Pavlos Tzermias als Korrespondierendes Mitglied in die Athener Akademie, die höchste Kulturinstitution des Landes, aufgenommen. Pavlos Tzermias gilt als einer der prominentesten Byzantinisten der heutigen Zeit. Vom 11.-15. Dezember 2007 fand in Greifswald eine internationale Fachtagung statt mit dem Thema: “Byzanz in Europa. Europas östliches Erbe”, unter der Leitung von PD Dr. Michael Altripp, Ernst-Moritz-Arndt-Universität Greifswald. Im Rahmen dieser internationalen Fachtagung hielt Pavlos Tzermias einen öffentlichen Abendvortrag mit dem Titel: “Die europäische Dimension von Byzanz“.

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